Als Hidayet Ende 2022 mit 17 Jahren als Flüchtling in die Schweiz kommt, hat er nahezu nichts: Kein Zuhause, kein Geld und keine klare Zukunft. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, muss er sich ein neues Leben aufbauen. Knapp zwei Jahre später hat er es geschafft: Im August 2024 beginnt er seine Lehre als FaGe in einem Altersheim. Ein grosser Schritt in seine Zukunft.
Flüchtlinge als Potential für den Arbeitsmarkt
In der Schweiz wurden 2024 knapp 28’000 Asylgesuche gestellt. Zeitgleich verzeichnen Schweizer Unternehmen immer höhere Zahlen an unbesetzten Stellen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Flüchtlinge als grosse Ressource, doch obwohl Flüchtlinge mit einer Bewilligung vom Typ B, F, oder S, unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, üben derzeit nur weniger als die Hälfte einen Beruf aus. Dabei ist die Integration auch aus finanzieller Perspektive entscheidend. «Das Interesse sollte gross sein, dass man die Leute möglichst rasch integrieren kann. Das kostet auch weniger als Leute, die man unterhalten muss», so der Berner Stadtrat Ueli Jaisli (SVP). Einer derjenigen, die eine Stelle gefunden haben ist Hidayet. Als er an diesem Nachmittag uns gegenüber Platz nimmt, wirkt er offen und neugierig, aber auch ein wenig nervös. Er begrüsst uns freundlich mit einem Lächeln im Gesicht. Nach einem Moment des Nachdenkens beginnt er zu erzählen, zunächst etwas zögerlich, dann mit zunehmender Sicherheit.
Die Ersten Schritte in ein neues Leben
«Es ist schwierig, wenn alles neu ist, man hat das Gefühl, dass man nichts weiss», sagt Hidayet nachdenklich. Als er im Oktober 2022 aus Afghanistan in die Schweiz kam, war alles fremd: das Land, die Menschen, die Sprache. Zunächst wurde Hidayet für einen Monat im Bundesasylzentrum in Bern untergebracht. Eine Zeit des Wartens, der Unsicherheit. Erst mit dem Umzug in die Kollektivunterkunft in Langenthal begann sich etwas zu verändern.
«Ich kenne viele Leute, die nicht so gute Erfahrung mit dem Asylsystem in der Schweiz hatten.»
Er besuchte dort einen Deutschkurs, doch nur für kurze Zeit. Wer schnell Fortschritte machte, durfte an die Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule wechseln. «Ich hatte Glück», sagt Hidayet mit einem bescheidenen Lächeln, als wir ihn fragen, wie er es dorthin geschafft hat. Sprachen zu lernen, falle ihm leicht, erzählt er. «Andere sagen immer, Deutsch ist eine sehr schwierige Sprache, aber für mich war es wirklich nicht so. Ich habe bis heute das Gefühl, dass ich es ohne Schwierigkeiten gelernt habe», antwortet er stolz auf die Frage, ob Deutsch denn schwieriger zu lernen sei als andere Sprachen.
Die Sprache als Schlüssel
Die Sprache wurde für Hidayet zum wichtigsten Baustein zur beruflichen Integration, gleichzeitig aber auch zur Hürde. Seine beruflichen Pläne hatte er ändern müssen, weil seine Berndeutschkenntnisse nicht ausreichten. Anfangs hatte er eine Lehre als MPA anvisiert, ein Beruf, den ihn sehr interessiert habe, doch der Beruf ist beliebt und die Anforderungen hoch. «Es gab keine freien Lehrstellen und wenn es welche gab, dann hatte man keine Chance», berichtet Hidayet. Zu diesen Anforderungen gehörten auch ein Sekundarschulabschluss in der Schweiz und fliessendes Berndeutsch. In einem zweiten Anlauf habe er sich für eine Lehre als FaGe im Inselspital beworben, doch auch das erfolglos. «Sie haben mich direkt, ohne mit mir ein Gespräch zu haben oder mich gut zu kennen, einfach abgelehnt.» Hidayet äussert den Verdacht, dass er abgelehnt wurde, weil man dachte, er könne zu wenig gut Deutsch und weil er nicht in der Schweiz in die Sekundarschule gegangen sei. Als er das sagt, sieht man ihm die Entmutigung an, doch Hidayet liess sich nicht beirren, machte mehrere Schnupperlehren und fand schliesslich eine Lehre als FaGe in einem Altersheim der Domicilgruppe. «Ich habe diese Lehrstelle nur, weil ich so gut Deutsch konnte, deswegen haben sie mir die Lehrstelle gegeben», sagt er stolz, als wir ihn fragen, was für den Erfolg bei der Lehrstellensuche entscheidend war.
Herausforderungen beim Deutschlernen
Dass die Sprache eine sehr wichtige Rolle spielt, bestätigt auch Aline Criblez. Sie ist Deutschlehrerin, hat sprachliche Integration studiert und unterrichtet geflüchtete Kinder und Jugendliche. Sie weiss aus Erfahrung, welche Herausforderungen beim Deutschlernen auftreten können. «Es gibt viele Schwierigkeiten, weil sie am Anfang fast nichts verstehen. Ein Punkt ist schon nur der Tagesablauf: Wann haben wir Schule, wann haben wir Pause, wo gehen wir Mittagessen, was sind die Regeln? Vor Kurzem hatten wir einen neuen Schüler. Nach der Schule wusste er gar nicht mehr, wo er wohnt, wie er nach Hause gehen muss, wie er den Weg findet, weil er erst einmal gekommen ist.» Neben diesen alltäglichen Herausforderungen sei die Sprache der Schlüssel zur beruflichen Integration. «Für viele Lehrstellen ist mindestens B1 gefordert, in manchen Fällen reicht A2, wenn man das nicht hat, hat man gar keine Chance.» Zudem sei die Kommunikation in jedem Beruf und in jeder Lebenssituation wichtig. Doch nicht alle Jugendlichen lernen gleich schnell. «Es hängt stark davon ab, ob sie in ihrem Herkunftsland in die Schule gegangen sind», erklärt Aline Criblez mit Bedauern in der Stimme. «Wer noch nie in die Schule gegangen ist, muss nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch die Struktur der Sprache verstehen. Das dauert viel länger.» In Afghanistan beispielsweise, Hidayets Herkunftsland, dürfen Mädchen nur bis zu der 6. Klasse in die Schule gehen. Und auch in Eritrea besuchen weniger als ein Drittel der Kinder die Schule. Diese Länder sind mit der Türkei die Hauptherkunftsländer für Asylgesuche in der Schweiz. Auch traumatische Erlebnisse und psychische Belastungen, die die Jugendlichen auf der Flucht oder in ihrem Heimatland erleben, können den Lernprozess zusätzlich erschweren, sagt Aline Criblez. «Es gibt Schüler, die nach sechs Monaten bereits auf A2-Niveau sind, während andere nach zwei Jahren noch Mühe mit A1 haben.» Deshalb sei es wichtig, auf jeden Schüler einzugehen und ihnen viel Zeit zu lassen, denn wenn man Stress hat und sich nicht wohlfühlt, könne man weniger gut lernen. Zudem sei persönliche Betreuung und Unterstützung ein Muss, denn von den sehr jungen Flüchtenden, seien viele traumatisiert. Von ihren Erlebnissen im Herkunftsland aber auch von der Flucht und auch davon, dass der Alltag in der Schweiz nicht dem entspricht, was sie sich vorgestellt hatten, berichtet Marianne Kühni. Sie arbeitete früher im Flüchtlingszentrum in Trubschachen, unterrichtete und organisierte Projekte für die Jugendlichen. Nun fungiert sie als Jobcoach und unterstützt Geflüchtete bei der Stellensuche. Zur Flucht sagt sie, «sie lernen auch nicht nur das Gute auf der Flucht. Da passiert vieles, was ganz schwierig ist.»
Besonders wichtig sei auch der Kontakt zur Sprache durch Bücher, Filme aber auch durch den Kontakt mit Einheimischen. Doch der sei häufig schwierig herzustellen. «Unsere Schüler sind in den Wohnheimen nur unter sich und sprechen ihre Muttersprache.» Aline Criblez ist der Meinung, dass Austauschprojekte mit Schulen sehr wertvoll für alle Beteiligten wären, doch das Hauptproblem sei die Organisation. Die Wichtigkeit des Austausches mit Einheimischen, betont auch Marianne Kühni. Einen Treffpunkt zu haben, wo man neue Menschen kennenlernen könne und so sein Deutsch verbessert, mache viel aus. Denn auf der Strasse spräche kaum einer mit den Geflüchteten. Entweder sei niemand da oder wenn, dann hätten die Leute zu wenig Zeit, um sich zu unterhalten.
Der Weg in die Arbeitswelt
«Es ist sehr wichtig, dass die Leute möglichst schnell Deutsch lernen, dass sie möglichst auch in unseren Alltag integriert werden. Einfach mit unseren Kulturen vertraut werden», sagt Ueli Jaisli. Wenn dies erst einmal der Fall sei, sollte der nächste Schritt eine Lehre sein. «Und sobald sie eine Lehre haben, sind sie dann auch beruflich selbstständig, sie können sich dann auch beruflich verändern.» Doch so einfach sei es nicht, sagt Marianne Kühni. «Zwei unserer jungen Männer haben die Lehre abgeschlossen letzten Sommer und beide haben danach gelauert und keine Stelle gesucht, die haben gedacht, jetzt sind wir fertig, wir finden sofort eine Stelle.» Auch dort sei Unterstützung wichtig, beispielsweise durch Hilfe beim Bewerbungen schreiben. Trotzdem sei eine Lehre ein wichtiger erster Schritt für nahezu alle Neuankömmlinge. Doch auch bei der Lehrstellensuche gibt es Schwierigkeiten. «In anderen Ländern ist es so, da geht man auf die Strasse und sucht Arbeit. Bei uns funktioniert das eben nicht so», sagt uns Marianne Kühni. Deshalb sei es besonders wichtig, den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu zeigen, wie alles funktioniert.
«Da ist so viel Potential vorhanden.»
Die Jugendlichen kennen aus ihren Herkunftsländern oft nur wenige Berufe. «Sie kennen Coiffeur, Schreiner und Automechaniker, fertig. Dann muss ich sagen, Nein, in der Schweiz gibt es 250 Berufe», sagt Marianne Kühni energisch. Wichtig sei es, den jungen Menschen Perspektiven aufzuzeigen. Marianne Kühni stellt ihnen Berufslisten zur Verfügung, fordert sie auf, sich im Internet zu informieren und vermittelt ihnen Schnupperlehren. Ihre Netzwerke kommen ihr dabei zugute: «Ich kannte, weil ich Gastwirtin war, sehr viele Leute in der ganzen Umgebung. Und sie durften mir nicht sofort Nein sagen. So konnte ich den Jugendlichen Möglichkeiten eröffnen, die die Lehrer in der Schule nicht hatten.» Zudem besucht sie mit kleinen Gruppen von Jugendlichen Bauernhöfe, Baustellen und weitere Arbeitsplätze, damit sie die Berufe hautnah miterleben können. Mit dem Vermitteln von Wochenplätzen, können Jugendliche bereits während der Phase des Deutschlernens, erste Erfahrungen in der Schweizer Arbeitswelt sammeln, etwas Geld verdienen und auch Kontakte zu Deutschsprachigen knüpfen. Ueli Jaisli bestätigt auch, dass er den Eindruck habe, dass viele Betriebe interessiert seien, Flüchtlinge als Arbeitskräfte aufzunehmen. Sie benötigten dafür aber Unterstützung in Form von Angeboten wie Betreuung und finanzieller Unterstützung. Um das zu gewährleisten sei die Zusammenarbeit von Bund, Kantonen und Gemeinden besonders wichtig.
Integration als Chance auf eine Zukunft
Hidayets Geschichte zeigt, wie ein geglückter Integrationsprozess aussehen kann. Sein Erfolg ist das Ergebnis von Durchhaltevermögen, Lernbereitschaft und der Unterstützung verschiedenster Menschen. Hidayet ist kein Einzelfall, viele junge Flüchtlinge stehen vor denselben Hürden. In wenigen Jahren wird Hidayet seine Lehre als FaGe abgeschlossen haben. Sein Weg ist aber noch nicht zu Ende, mit seinem Ziel, an der Fachhochschule zu studieren, zeigt er, dass Integration mehr ist als nur Ankommen: Es ist die Chance auf eine echte Zukunft.